Nach fünf Tagen in engen Matratzenlagern auf kleinen Berghütten sind die Hotelbetten der wahre Luxus. Das Frühstück ist fürstlich und reichhaltig. Es ist stark bewölkt und die ganze Nacht hat es heftig geregnet. Der Fernseher des Lokalsenders verspricht mit seinen Lifebildern von den umliegenden Bergen aber wesentlich Besseres: Über den Wolken scheint die Sonne und es herrscht grenzenlose Fernsicht in der vom Regen reingewaschenen Luft. Wir drängen zum Start und wollen mit der Seilbahn von Livigno aus auf den Carosello fahren. Leider hat diese wegen Revisionsarbeiten geschlossen. Unverrichteter Dinge fahren wir zurück nach Livigno und schließlich ins Val di Federis. Nach der lockeren Auffahrt auf einer kleinen Teerstraße erreichen wir den Abzweig zur Rifugio Cassana. Es hat inzwischen aufgerissen und nur noch einzelne Wolkenfetzen hängen zwischen den Bergen.
Ab hier beginnt eine extrem steile Schotterpiste. Uns überholt ein Schweizer Biker. Ich lasse ihn nach kurzem aber erfolglosen Kampf davon fahren. CC-Bike und Klickpedale…da bin ich mit meinem schweren Gerät und den Bergstiefeln heute chancenlos.
Dave: “Mit Klickpedalen und der alten Kondition würde ich den Pass eigentlich hochdrücken wollen. Aber so schiebe ich die erste Rampe erst einmal gemütlich mit Harry, während Carsten weiter vorne im Sattel sitzend um die Höhenmeter kämpft. Durch sein Vorbild erwacht dann plötzlich doch der Ehrgeiz in mir! Ob ich es schaffe Carsten im Schieben einzuholen und mitzuhalten? Ich komme erstaunlich schnell auf dem schiebegerechten Weg vorwärts und schließlich lasse ich Carsten sogar weit hinter mir und rase aus Lust an der Freude im Laufschritt bis zur Hütte hinauf.
Hätte niemals gedacht, dass Schieben so viel Spaß machen kann! Schon komisch, wenn ich bedenke, dass ich früher Schiebe- und Tragepassagen möglichst vermieden hatte. Aber da war ich andererseits auch nie mit Wanderschuhen unterwegs gewesen …”
Aufstieg zum Passo Cassana
Darauf folgt eine kurze Rast an der Cassana Hütte. Nach einer Cola bewältigen wir schnell die 90 Höhenmeter Schiebestück zum Passo Cassana. Oben auf dem Übergang hat man ein schönes Panorama. Wir überschreiten die grüne Grenze in die Schweiz.
Der Trail zur Chaschaunaalm ist leider kein Vergnügen. Er ist erdig und tiefe Erosionsrinnen verschlucken uns fast bis auf Sattelhöhe. In den Kehren sind notdürftig Rinnen gezogen worden, welche ein anständiges Abfahren erschweren. Dave flucht hinter mir über diese spaßhemmenden Rinnen, ich bin dadurch einen Moment unkonzentriert und schon passiert es…ein echter Anfängersturz hebelt mich aus dem Sattel. Ich überschlage mich und rolle über die rechte Schulter ab. Der weiche, feuchte Boden und die richtige Sturztechnik verhindern zum Glück Schlimmeres. Ich muss kurz noch den verdrehten Vorbau gerade rücken und schon geht’s weiter. Kurz vor der Chaschaunaalm quälen wir uns über einen völlig von den Ausscheidungen der hier grasenden Kühe verseuchten Wegabschnitt.
Ab der Alm geht es auf einem Schotterweg rasant ins Tal. Glücklicherweise können wir an einem kleinen Bach kurz anhalten und die Reifen reinigen, bevor uns der ganze Kuhdung um die Ohren fliegt. Leider verfahren wir uns weiter unten kurz und gelangen auf den Schotterweg, statt die sicherlich interessantere Mountainbikeroute zu nehmen. An der nächsten Weggabelung finden wir einen Höhenweg ins Tal, der sich als schöner Trail entpuppt.
Schnell queren wir das Inntal bei Schanf und fahren auf der andern Talseite wieder hinauf in Richtung Val Susauna. Inzwischen braut sich ein Gewitter zusammen. Vor uns grollt und donnert es, der Himmel wird zusehends schwärzer. Wir beschließen nach einer kurzen Diskussion schließlich weiter in die Berge hinein zu fahren. Sollte es stark anfangen zu regnen oder gar zu blitzen können wir hier immer noch schnell umkehren oder eine der Almhütten als Fluchtpunkt ansteuern.
Und genau so wie befürchtet kommt es auch. Kurz vor der Pignaint Alm auf 1900 m Höhe beginnt es stark zu regnen. Wir steuern schnell die etwas abseits liegende Alm an und suchen Schutz an der Almhütte. Eine Ziege schaut zur Tür heraus. Ein Hund gesellt sich dazu und letztendlich noch ein Schaf. Der Almhirte lässt sich auch kurz blicken und bietet uns an, im Stall Schutz zu suchen, sollte es draußen zu ungemütlich werden. Das kleine Vordach der Hütte bietet aber ausreichend Schutz. Bereits nach 20 Minuten lässt der Regen nach und wir können weiterfahren. Das Gewitter hat uns nur gesteift und scheint südlich von uns vorbeizuziehen. Bei leichtem Nieselregen geht steil hinauf. Schnell lässt der Regen nach und einzelne Sonnenstrahlen lassen sich blicken. Am Bach kurz vor der Futaunaalm warten am andern Ufer zwei Biker und überlegen, ob sie die Furt durchfahren sollen oder besser die etwas weiter nördlich gelegene Brücke ansteuern sollen. Wagemutig stürze ich mich in die Fluten und durchfahre den Bach. Die Bergstiefel halten dicht und ich komme fast trocken drüben an. Die beiden, sowie Dave und Harry ziehen es nach dieser Vorstellung jedoch vor, den Umweg über die Brücke zu nehmen.
Harry: “Ich sah Carsten schon dem ertrinken nahe. Ohne seinen ordentlichen Schwung hätte er sicher ein Bad genommen. Ging ihm das Wasser doch bis zu den Naben. Gut dass es noch eine Brücke gab.”
Jetzt wird das Wetter deutlich besser und wir beginnen den langen Anstieg durchs Val Futauna. Hatten wir bis hier auf einem Schotterweg noch fast alles fahren können, zwingt uns nun der schmale Trail immer wieder zum Schieben.
Im Val Funtauna
Nach einer weiteren Stunde erreichen wir schließlich den Abzweig Keschhütte. Wir lassen ihn links liegen und fahren am Hang entlang in Richtung Sertigpass. Am nächsten Abzweig biegen wir ins Val Ravaisch ein. So langsam zermürbt mich und Harry die ständige Schieberei, das kurze Fahren und das andauernde Absteigen auf dem teilweise verblockten Pfad. Auch das Wetter hat sich nicht endgültig stabilisiert. Ich muntere Harry auf und sage ihm, er solle aufs Wasser schauen. Sobald es ihm nicht mehr entgegenfließt und unsre Richtung nimmt, ist der Pass geschafft und es geht hinab.
Harry: “Der Übergang zog sich endlos in die Länge. Ich hatte die Nase schon gestrichen voll. Und da kam Carsten, mit dem Spruch des Tages: „Sobald das Wasser auf der anderen Seite runterläuft, haben wir es geschafft.“ Darauf gab es nur eine Antwort: „Jeaaaah … ;-)”
Irgendwann inmitten der sumpfigen Almwiesen überschreiten wir dann schließlich die europäische Wasserscheide. Ab hier fließt das Wasser nicht mehr in den Inn und somit durch die Donau und letztendlich ins schwarze Meer – sondern hier fleißt es in Richtung Rhein und Nordsee. Endlich sehen wir den traumhaft gelegenen Lai Ravaisch. Wir legen noch schnell die Protektoren an. Dave und Harry fahren voraus, ich warte oberhalb des Sees um einige Fotos von ihnen zu machen, wenn sie den traumhaft am See entlang führenden Trail befahren.
Trail im Val Ravaisch
Danach fahre ich hinterher. Harry hat inzwischen sein Bike geparkt und ist gerade dabei ein Bad im See zu nehmen. Leider bleibt uns nicht viel Zeit, denn der Himmel verdunkelt sich in unserem Rücken schon wieder. Donner grollt.
Gewitterstimmung im Val Ravaisch
Dann beginnt das, worauf ich mich exakt seit einem Jahr gefreut habe: Die Abfahrt durch das Val Ravaisch. Letztes Jahr habe ich diesen Traumtrail hoch geschoben und getragen und dabei beschlossen ihn so bald wie möglich hinab fahren zu wollen. Wir genießen den anspruchsvollen Downhill nach Chants.
Trail durchs Val Ravaisch
Der Trail ist verblockt und schnell. Die Federgabeln arbeiten am Anschlag, mein Hinterbau kommt voll zum Einsatz. Während mein Fahrwerk hier alles niederbügelt, müssen Harry und Dave mit ihren Hardtails alle Arbeit mit ihren Oberschenkeln machen. So habe ich immer wieder Zeit ein paar Meter voraus zu fahren und kann einige schöne Fotos schießen.
Brücke im Val Ravaisch
In Chants machen wir einen kurzen Boxenstop in einem kleinen Restaurant am Wegesrand. Wir investieren die einzigen 20,-SFR die Dave zum Glück dabei hat in Kaffee, Engadiner Nußtorte und eine Flasche Apfelschorle. Schon nach wenigen Minuten geht es weiter in Richtung Bergün. Über der Keschhütte tobt inzwischen ein Gewitter. Wir biegen bald von der Straße ab und finden einige geniale flowtrails die uns hinab ins Tal führen. Der Weg ist ein wahres Freudenfeuer und besteht aus unzähligen Sprüngen, Anliegern und einer Vielzahl von schmalen Holzbrücken. Der feuchte und stellenweise rutschige Untergrund erfordert nochmals unsere volle Konzentration. Einige Gegenanstiege saugen die letzten Kräfte aus unseren Beinen. Schließlich erreichen wir die Ortsmitte von Bergün. Ab hier folgen wir der Rennstrecke des K78, der morgen hier stattfinden wird. Der Trail an der Albulapassstraße ist schmal und anspruchsvoll. Nach der Querung des Albula-Baches haben wir einen letzten Gegenanstieg zu meistern. Dann folgt die kurze Abfahrt bis zum Gasthof Bellaluna. Der kommt uns gerade recht, das Schild „Zimmer frei“ kommt wie gerufen. Ich buche kurz unsere Übernachtung. Nachdem wir die Bikes geparkt und geduscht haben scheint draußen die Welt unterzugehen. Es gießt in Strömen und Donner hallt durchs Tal des Albula. Harry entdeckt den gut bestückten Weinkeller des Gasthofes und versucht den Wirt zu überreden, in der kleinen Schatzkammer übernachten zu dürfen.
Harry im Paradies
Nach dem Essen und einem Absacker in der unter dem Dach befindlichen gemütlichen Bar fallen wir todmüde ins Bett.
Weiter zu Tag 8
Alle Fotos von Tag 7
Hier unser Streckenverlauf
Höhendiagramm Tag 7
Strecke:
Livigno
Rif. di Cassana
Passo Cassana
Chaschauna
S´chanf
Val Susauna
Alp Funtauna
Lai Ravaisch
Val Ravaisch
Chants
Bergün
Bellaluna
Übernachtung:
Bellaluna +41 (0)81 404 20 00