Vals – Capanne Bovarina

Zunächst steht uns eine unspektakuläre Abfahrt auf der Straße nach Uors bevor. 11 km lang 300 Höhenmeter sinnlos auf der Straße vernichten. Schade um den Reifengummi, aber in diesem Tal gibt es bis hinab nach Uors keinerlei Alternative. Danach folgen wir weiter der ausgeschilderten Mountainbikeroute “Alpin Bike” in Richtung Vrin.

Divergenz  bezeichnet allgemein die Auseinanderentwicklung zweier Objekte oder Prozesse ausgehend von einem Ursprung und stellt damit das Gegenteil der Konvergenz dar. (Quelle Wikipedia)

Heute gehen die Dinge auseinander. Zunächst einmal die barometrischen Höhenmeter auf meinem Tacho zu denen vom Satelliten auf meinem GPS. Kein gutes Zeichen, das Barometer fällt nämlich wenn die Höhe vermeidlich steigt…was ein Ende der Schönwetterperiode bedeutet.

Dann verlässt uns Günter. Was sich gestern bereits abzeichnete wurde in der Nacht zur Gewissheit. Günter wurde von heftigen Krämpfen geplagt. Beim Frühstück steht für ihn fest, heute ist Schluß mit der Quälerei. In Uors trennen sich unsere Wege, er fährt auf der Straße weiter hinab nach Ilanz, um von dort aus mit der Bahn heim zu reisen. Schade, ab jetzt sind wir nur noch zu dritt unterwegs.

Der Weg führt fortan auf der schattigen Talseite durch den Wald. Sehr angenehm, brennt doch nur wenige Meter weiter im Süden die Sonne ziemlich heftig. Zur Hitze kommt heute noch die höhere Luftfeuchtigkeit, was die Sache nicht gerade angenehmer macht. Wir fahren aber zum Glück auf schmalen Waldwegen, die zum größten Teil im Schatten verlaufen. Der Weg ist gut fahrbar und weist bis auf wenige Ausnahmen nur eine mäßige Steigung auf.

Wir verlassen in Surin die Bikerroute Alpin Bike und wenden uns der Greina Hochebene zu. Während die Bikeroute nach Lumbrien und später hinab nach Disentis führt, wählen wir ab jetzt eine wesentlich anspruchsvollere und alpinere Variante. Dieses bedeutet wiederum in mehrfacher Hinsicht Divergenz: 700 Höhenmeter hoch tragen, um dann auf dem Pass Disrut zu stehen und zu merken, dass man hier sein Bike gar nicht im Sattel sitzend benutzen darf. Kann man aber sowieso nicht. Also wird gewandert.

Leider hat sich während des langen Aufstieges das Wetter permanent verschlechtert. Dunkle Wolken umhüllen die Gipfel, Nebelschwaden ziehen durch die Täler. Die Szenerie ist zeitweilen gespenstisch. An manchen Stellen weht ein kräftiger Wind. Während wir am Beginn des Aufstieges noch zahlreichen Wandern begegnen, die das Wochenende auf der Greina Hochebene verbracht haben, sind wir spätestens am Pass Disrut fast alleine unterwegs in der kargen Landschaft.

Vom Pass führt ein technisch sehr anspruchsvoller Trail 200 Höhenmeter hinab ins Tal. Wir erblicken im Dunst kurz die Terrihütte an der gegenüberliegenden Talseite. Unten im Tal folgen wir dem schmalen Pfad in Richtung Passo Greina. Der Weg ist beschwerlich, teilwese sumpfig und bis auf wenige Ausnahmen auch n icht wirklich fahrbar. Aber wird sind ja heute zum Wandern und zum Genießen der Landschaft hier, nicht zum Biken. Und wir haben noch ein ganzes Stück vor uns. Langsam bekommen wir Hunger und bis zur Rifugio Scaletta ist es noch weit. Und dann ist da die Sache mit dem Wasser…Die Divergenz des Wassers: Bewegt man sich auf einer Hochebene fließt einem das Wasser entgegen, bis man den höchsten Punkt erreicht hat, dann fließt es eben in die andere Richtung. Manchmal nennt man diese Divergenz dann auch europäische Wasserscheide. Immer wieder schauen wir nach dem Wasser, wann fließt es endlich in unsere Richtung? Wann geht es bergab?

Wir erreichen schließlich den Passo Greina. Verlassen den Kanton Graubünden und überschreiten die Grenze ins Tessin. Aber eine richtige Passhöhe ist das hier irgendwie nicht. Am dunstigen Horizont erkennen wir einen Steinmann. OK, wir befürchten dass der Anstieg bis dort hinauf auch noch bewältigt werden muss. Die ganze Sache sieht aber schlimmer aus, wie sie letztendlich ist. Ab hier ändert sich schlagartig sowohl das Wetter als auch die Geologie. Während wir eben noch auf fast weißem Quarzsand unterwegs waren dominiert plötzlich tiefschwarzer Schiefer das Landschaftsbild. Der Nebel wird dichter und hüllt die ganze Gegend gespenstisch ein. Wir fühlen uns plötzlich auf einen anderen Planeten versetzt. Irgendwie unwirklich. Noch ein paar Meter Abfahrt, dann taucht aus dem Nebel die Rifugio Scaletta auf. Endlich eine Rast, warmes Essen. Inzwischen ist es 15.30 Uhr. Das Frühstück um halb acht ist ganz schön lange her. Sehr hungrig verschlingen wir die üppige Portion Rösti mit Spiegelei.

Während wir in der warmen Hütte sitzen lichtet sich draußen der dichte Nebel und gibt den Blick auf das Tal und somit den weiteren Wegverlauf frei. Nach der Stärkung brechen wir bald wieder auf und müssen zunächst wieder ein Stück auf dem Weg zurück bis zu einem Abzweig schieben. Dann muss noch kurz ein Bach überquert , eine felsige Rampe hoch erklommen und die Abfahrtsposition auf dem Rad eingenommen werden.

Danach beginnt die extrem anspruchsvolle Abfahrt nach Campo. Verblockter Fels, hohe Stufen, enge Spitzkehren. Hier in diesem Terrain fühle ich mich zu Hause. Ich spiele mit dem Weg, lasse das Hinterrad durch die Luft schweben. Alle Muskeln sind zum Zerreißen gespannt, das Gehirn muss pro Sekunde hunderte von Entscheidungen treffen, Bremspunkte setzen, Gewichtsverlagerung, Lenken, Blick voraus, Suche nach der Linie, reflexartige Reaktionen auf wackelnde Steine, ein rutschender Reifen, ein Felsen steht im Weg, der Rucksack schiebt. Shit, der rechte Fuß muss raus. Nichts mit No Foot auf diesem Trail. Ich blicke mich um, Michael und Frank sind noch weiter oben unterwegs. Ich höre Michaels Fluchen…Klickpedale. Ich nutze die Zeit kurz meine verkrampften  Hände zu entspannen und die gerade eben versemmelte Sektion nochmals zu probieren. Beim zweiten Mal klappt es, jetzt stimmt die Linie und weiter geht es. Ein kurzer flowiger Abschnitt unterbricht die fahrtechnische Herausforderung, dann geht es ebenso heftig wie zuvor weiter. Einige Stellen klappen auch beim dritten Versuch noch nicht. Was soll´s der Trail ist noch lang und einen Sturz in diesem Gelände will ich auf keinen Fall riskieren.

Schließlich erreichen wir den Talgrund, nur 270 Höhenmeter unterhalb der Rifugio Scaletta. 35 Minuten haben wir gebraucht, 35 Minuten die es in sich haben. So ein Stück Weg sollte man zu Hause haben zum Üben. Ab hier führt eine asphaltierte Straße ins Tal nach Campo, daneben ein Wanderweg. Obwohl es schon recht spät heute ist und unser ursprüngliches Ziel bis zum Passo del Lucomagno zu kommen schon unerreichbar ist, entscheiden wir uns natürlich für den Singletrail ins Tal. Auch hier geht es fahrtechnisch zur Sache, einige Gegenanstiege sind zu meistern und ein paar Passagen führen über sumpfige Abschnitte. Dennoch ist der Trail ein echter Leckerbissen und wir lassen uns fast keinen Meter von ihm entgehen. Einzig ein kurzes Stück an einer Alm lassen wir aus. Ab der Ortschaft Daigra führt zunächst ein schöner Wiesenweg und später ein schneller Weg durch den Wald bis nach Campo.

Es ist bereits 18.00 Uhr. Wir beschließen vor der Auffahrt noch einen Anruf auf der Hütte zu tätigen. Das heutige Ziel ist die Capanne Bovarina. 700 Höhenmeter haben wir bis dahin noch zu bewältigen. Zunächst 500 Höhenmeter auf einer kleinen geteerten Straße und später dann noch ein Tragestück. Es gäbe noch eine alternative Auffahrt über die Pradasca Alm. Diese schätzen wir jedoch anhand der Karte als wesentlich länger und aufwendiger ein, so dass wir heute Abend einfach die Diretissima wählen. Relativ rasch bewältigen wir also die700 Höhenmeter im Abendlicht.

Anfangs erblicken wird auf der gegenüberliegenden Talseite mehrmals die Staumauer des Lago di Luxxone. Leider ist es immer noch recht dunstig und bewölkt. Dafür ist unsere Auffahrt von prächtigen alten Latschenkiefern rechts und links des Weges gesäumt. Diese Bäume hier müssen Jahrhunderte alt sein.

Das steile Tragestück vor der Hütte entpuppt sich dann doch noch als echte Herausforderung und wir quälen uns ziemlich. Es ist spät geworden heute und es reicht gewaltig. Es währe wohl doch besser gewesen den vermeintlich längeren Weg außen rum zu nehmen. Als wir die Hütte endlich erreichen steht das Essen schon auf dem Tisch. Bevor wir uns unverschwitzte Kleidung anziehen wird der erste Gang verputzt.

Ansonsten ist das Essen üppig und gut, das Wirtspersonal sehr freundlich und die Hütte ist neu gebaut und sehr sauber und gepflegt. In den Zimmern die mit 8 bis 10 Betten bestückt sind gibt es statt der üblichen Filslauszuchtdecken echte Federbetten und anständige Kissen.

Fazit:

Zunächst war es heute sehr schade, dass Günter die Tour abbrechen musste. Nach schönen und warmen Wetter am Vormittag nahm tagsüber die Bewölkung immer mehr zu. Dennoch konnten wir bleibende Eindrücke von der grandiosen Landschaft mitnehmen. Ob man die Greine Hochebene mit dem Bike machen muss oder darf sei dahin gestellt . Wir haben uns dafür entschieden, auch wenn ich diese Etappe so nur sehr eingeschränkt weiter empfehlen möchte. Als echtes Highlight nehme ich heute die Abfahrt von der Scaletta Hütte mit.

Bilder:

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GPS:

Track und Höhendiagramm bei GPSies.com

Übernachtung:

Capanne Bovarina
Telefon 091 – 872 15 29

Statistik Tag 3:

2560 Höhenmeter
davon 900 Höhenmeter getragen und geschoben
50 km
6.0 h Fahrzeit
10,5 h unterwegs

Karte:

Wanderkarten Kümmerly + Frey Wanderkarte 20, Surselva – Disentis – Valsertal – Flims

Kompass Wanderkarte 123, Flims / Surselva / Valser Tal

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