Der Wecker klingelt um sechs
Uhr. Ich setze mich samt Schlafsack auf und dehne mit einer ruckartigen
Bewegung meine Schultermuskulatur. Der Schlafsack rutscht herunter und
es knackt. Lange schon hatte ich diesen Morgen erwartet. Sofort bin ich
hell wach.
Dave liegt neben mir etwas erhöht auf der Couch und schaut noch im
Halbschlaf zu mir hinunter. Mein Bruder Carsten wacht im selben Moment
auf.
Wir sind bei Rolf in Weilheim. Abends zuvor sind Carsten, Dave, ich und
die Kameraleute André und Micha hier angekommen und hatten die
letzten Details unserer diesjährigen Tour bei einem reichhaltigen
Abendessen und Augustinerbräu durchgesprochen.
Rolf:
"Unglaublich, wie der Passat von Carsten das verkraftet hat. Als
er auf unseren Garagenvorplatz rollt traue ich meinen Augen nicht: Mann,
liegt der tief; vier Bikes auf dem Dach, an die noch Laufräder gebunden
sind, fünf Kerle auf die Sitze verteilt und alle verbleibenden Zwischenräume
sowie der Kofferraum sind mit Gepäck, Schlafsäcken, Isomatten
sowie Film- und Bikeausrüstung ausgestopft.
Nach vorsichtigem Öffnen der Türen kommt aber nach und nach
alles unversehrt zum Vorschein.
Das Wetter meint es gut mit uns. Und auch unsere Vermieterin hat ein Herz.
Sie räumt ihre Terrasse und so können wir (umgeben von den vier
Katzenkindern) auf der Terrasse essen und den nächsten Tag planen."
Ich springe auf und gehe als
erster ins Bad. Jetzt kann es für mich nicht schnell genug gehen.
Wir haben eine erste Tagesetappe von fast hundert Kilometern und weit
über 3.000 Höhenmeter vor uns. Dazu das Filmprojekt. Ich habe
mich entschlossen meine Diplomarbeit mit dem diesjährigen Alpencross
zu verbinden. Bald genug sollte uns klar werden, dass der Faktor Zeit
unser härtester Gegner sein wird.
Nach dem Frühstück packen wir alles in zwei Autos und fahren
gen Mittenwald. Ein leichter Regen setzt ein. Die dicken Tropfen platzen
gegen die Windschutzscheibe. Die Berge vor uns sind nur hinter einer dumpfen
Nebelwand zu erahnen.
Bis kurz vor Mittenwald haben wir Regen. Noch sitzen wir im Auto. Trotzdem
ist es etwas beunruhigend.
Beim Ausladen an der Liftstation in Mittenwald hat sich das Wetter wieder
beruhigt. Das Karwendel taucht hinter den Wolken hervor. Es ist noch Zeit
für ein Abfahrtsfoto und schon sitzen wir im Sattel.
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Dave:
"Endlich geht es los! Ich habe mich lange auf diesen Augenblick gefreut
und bin gespannt was uns die nächsten Tage erwartet und wie es mit
meinen neuen Gefährten laufen wird. Sorgen mache ich mir nur ein
wenig um meinen rechten Oberarm, bei dem bei einem Sturz zwei Monate zuvor
ein Stück angebrochen ist. Die an der Bruchstelle ansetzende Sehne
hatte sich in letzter Zeit immer wieder entzündet, was einer der
Gründe war, weshalb ich seit dem Sturz eigentlich fast ausschließlich
nur Straßentouren unternommen hatte. Trotzdem bin ich ziemlich zuversichtlich
und werde einfach ein wenig vorsichtiger fahren als sonst."
Und da ist ja noch unser Filmteam.
Mit dem Auto verfolgen sie uns auf der Straße, bis wir kurz nach
Mittenwald auf einen Wanderweg ausweichen.
Bis Scharnitz geht es durch den schönen Bergwald. Der Boden ist mit
vielen kleinen Senken und Hügelchen übersät. Im lichten
Wald gibt es weite, vom Licht durchflutete Grasflächen. Moosbewachsene
Steine schauen zwischen dem mächtigen Wurzelwerk hervor.
Das erste Mal richtig in die Pedale treten müssen wir dann auch schon
kurz nach Scharnitz auf dem Weg zum Karwendelhaus.
Die Sonne strahlt vom Himmel herab und wir nutzen die Zeit für Filmaufnahmen
während wir dem Bachlauf folgend das Karwendeltal hinauffahren. Eben
noch in der Stadt Mittenwald erreichen wir bald die Baumgrenze.
Dave:
"Wow, Carsten und Roland geben bergauf ganz schön Stoff! Wir
sind schon relativ flott losgefahren und ich dachte eigentlich, dass sich
das bei den ersten Anstiegen vielleicht wieder geben würde. Von wegen!
Mein Herz schlägt in Marathonfrequenz und ich bin froh, dass Rolf
an meiner Seite bleibt. Carstens mehrfacher Tourbegleiter versucht mich
zu beruhigen. Das wäre zumindest bei Carsten ganz normal und würde
sich bald wieder geben. Na, hoffentlich hat er Recht
."
Am Karwendelhaus angekommen
zieht wieder Nebel heran und es wird merklich kühler. Wir versäumen
nicht viel Zeit und fahren hinab.
Es beginnt zu regnen. Durch den Kleinen Ahornboden, sonst ein beliebter
Picknickplatz mit saftigen Wiesen und einzelnen Baumgruppen, brausen wir
nur hindurch.
Carsten:
"Schade, dass es gerade hier regnen muss. Die alten Bäume, der
kleine Brunnen...wenn hier die Sonne scheint, dann hätten wir hier
eine tolle Einstellung drehen könne...na egal, wir werden noch viele
Gelegenheiten haben"
Dave:
"Shit, was war das für ein Knacken?! Ich muss anhalten. Au Backe!
Auf der schnellen Schotterabfahrt hat mein Schaltwerk versucht sich einmal
um die Kassette zu wickeln und dabei Schaltarm und Schaltauge verbogen.
Zum Glück kann ich so noch weiterfahren, doch die Kette ist bei der
Aktion auch gut in Mitleidenschaft gezogen worden."
Im Johannestal stürzt
sich neben uns der gleichnamige Bach in einer tiefen Schlucht zu Tale.
Die weiße Gischt des nassen Schotterwegs spritzt uns ins Gesicht.
Wir sind schon zu spät dran für den Treffpunkt mit dem Filmteam
im Rißbachtal.
André und Martin sitzen schon eine Stunde im Bach, als wir im strömenden
Regen ankommen. Die Kamera ist unter einer Regenjacke verpackt. André
steht daneben und Michael hält den Schirm darüber.
Trotz der widrigen Umstände drehen wir ein paar Einstellungen.
Kurz darauf hört der Regen auf. Wir biegen Daves Kette wieder zurecht
und picknicken gemeinsam neben dem Auto. Es ist vierzehn Uhr. Seit sechs
sind wir auf den Beinen, seit halb zehn beim Fahrradfahren.
André und Michael haben Käse, Wurst, Brötchen und Gemüse
eingekauft. Hungrig wie Wölfe stürzen wir uns darauf.
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Rolf":
"Bis zur Engalm war das praktisch meine Westentasche, zum Lamsenjoch
bin ich aber nur vor Urzeiten zu Fuß aufgestiegen. Die Auffahrt
ist toll, steil aber alles gut zu fahren und mit genialen Blicken ins
Engtal.
Jetzt sinkt das Thermometer jedoch rapide, es fallen kurz auch ein paar
Hagelkörner. An der Hütte ziehe ich die wirklich warme Kombi
samt der Fäustlinge an. Wirklich warm ist das dennoch nicht bei fünf
Grad.
Der Abstecher in den Trail, der sehr felsig ist, macht an sich keinen
Sinn, aber der erste Trail der Tour kann auch nicht rechts liegen gelassen
werden. Dennoch sind wir froh, als wir wieder auf die Forststraße
treffen."
Carsten:
"Wow, genau meine Kragenweite, verblockte Felspassagen, Treppen.
Dave und ich spielen mit dem Trail, Rolf und Roland fallen zurück.
Leider ist der Spaß recht bald vorbei und der Trail wird unfahrbar.
Na ja war nicht gerade sinnvoll, angesichts der Wetterlage und der Etappe,
die wir noch vor uns haben"
Ich selber friere mächtig.
Die Temperatur liegt bei 10 Grad. Von Außen bin ich nass durch den
Regen, unter den Klamotten verschwitzt. Ich habe immer noch die Helmcam
auf. Die Lichtverhältnisse ändern sich ständig. Wolken,
Nebel, dann kommt wieder kurzzeitig die Sonne raus. Ich probiere aus,
wie die Automatikblende arbeitet und versuche unterschiedliche manuelle
Einstellungen von Blende und Weißwert.
Der Trail wird immer unwegsamer. Zwischen den Steinbrocken jeglicher Größe
ist ein Durchkommen teilweise nur möglich, wenn man das Rad schultert.
Ich baue die Helmkamera ab und filme wieder aus der Hand.
In dem Moment zeigt Carsten aus 20 Meter Entfernung auf den Hang hinter
mir. Da steht eine Gruppe Gämsen. Ich beobachte sie durch die Kamera
mit dem Tele. Fantastisch wie sich die Tiere sicher im schroffen Gestein
fortbewegen.
Nach etwa einer halben Stunde gelangen wir wieder auf den Schotterweg.
Kaum haben wir etwas Geschwindigkeit erreicht um hinab ins Inntal zu brausen,
fallen wieder dicke Regentropfen auf uns herab.
Rolf:
"Hier vermisse ich das einzige Mal auf der Tour wirklich Scheibenbremsen,
die alle anderen am Bike haben. Kurz vor dem Tal fallen mir aufgrund der
Nässe und der steilen Wege fast die Hände ab."
Carsten bedeckt die Kamera
auf meinem Helm mit einer Plastiktüte. Dann geht es die restlichen
800 Höhenmeter ins Inntal hinab. Nass sind wir ja sowieso schon.
Durch Schwaz fahren wir schnell
durch. Es ist wieder trocken. Im Fahrtwind perlen die Tropfen von meiner
Regenjacke ab. Merklich wärmer ist es im Tal.
Ein Stück geht es am Inn entlang, bis wir in Pill wieder auf André
und Michael treffen. Wir geben kurz ein paar Statements vor der Kamera
ab. Dann drängt die Zeit auf einmal. Bis zur Weidener Hütte
haben wir noch 1500 Höhenmeter vor uns. Es ist schon 19 Uhr und wir
sind bereits über 70 km und fast 2.000 Höhenmeter gefahren.
Sicherheitshalber rufen wir bei der Hütte an und fragen ob wir nach
21 Uhr noch Quartier und Essen bekommen.
Sie sagen uns, dass wir das heute nicht mehr schaffen würden. Wir
rechnen uns die Höhenmeter und die verbleibende Zeit bis zur Dunkelheit
aus und beschließen zu fahren. Wir versprechen bis 21.45 anzukommen.
Bis wir loskommen ist es dann aber auch schon 19.30 Uhr!
Nachdem die Straße nach Weerberg zuerst kräftig ansteigt und
wir schnell an Höhe gewinnen, zieht es sich nach hinten ins Tal immer
mehr hinaus.
Ich habe Hunger und fühle mich erschöpft. Zwei Riegel und viel
Wasser nehme ich zu mir während ich den drei Anderen hinterher fahre.
Nachdem wir die Straße verlassen und dem Wanderweg für die
restlichen 600 Höhenmeter folgen beginnt die Dämmerung.
Eine kurze Zeit fahre ich voraus. Jetzt hat es mich gepackt. Ich will
hier rauf. Der Nebel setzt wieder ein. Wir sehen nur noch wenige Meter
weit. Dave und Carsten kennen zum Glück die Strecke. Außerdem
ist sie regelmäßig markiert.
Carsten bleibt zurück als er nochmals einen Riegel isst. Rolf und
Dave fühlen sich noch ganz fit und fahren jetzt voraus.
Rolf:
"Ich bin vor zwei Jahren auf einer Dreitagestour vom Geiseljoch abgefahren,
es war mir daher klar, dass wir auch bei Dunkelheit ohne Probleme bis
zur Weidener Hütte kommen würden. Dennoch zog sich die Strecke
ganz schön. Da kam es sehr gelegen, dass auch Dave gleichmäßig
und ruhig aufsteigen wollte. So konnten wir uns gemütlich in der
gigantischen Abendstimmung unterhalten und kennenlernen, bis gestern hatten
wir uns nur E-Mails geschrieben."
Carsten:
"Irgendwie habe ich es heute morgen etwas zu schnell angehen lassen
und der schwere Rucksack tut sein Übriges. Ich habe Hunger, in meinem
rechten Knie verspüre ich bei jeder Kurbelumdrehung einen stechenden
Schmerz und eigentlich reicht es für heute. Ich falle zurück,
es beginnt zu regnen, es wird dunkel...ich bin noch nie bei Nacht im Quartier
angekommen..."
Der Wald sieht wunderschön
aus im Nebel. Während mir der Schweiß in die Augen läuft
und mir der Rücken schmerzt bewundere ich die anmutige Schönheit
der schwarzen Baumriesen. Die Geräusche des Waldes dringen wie von
ganz weit weg an mein Ohr.
Der Weg ist so steil, dass ich öfters vom Sattel steige, um Rücken
und Knie etwas zu entlasten. So trotte ich ein Stück, um mich dann
wieder für ein paar Hundert Meter auf den Sattel zu werfen.
Die Bäume werden lichter und ich sehe zwei Gestalten vor mir im Nebel
auftauchen. "Wir sollten zusammen bleiben!" höre ich Rolf
zu mir sprechen. Er und Dave stehen vor mir auf dem Weg. "Carsten
fehlt," antworte ich.
Carsten:
"Mein Höhenmesser zeigt 1.400 m, ich fahre im ersten Gang den
Berg hoch, noch 300 m bis zur Hütte...1.402 m, es ist dunkel, ich
hole die Stirnlampe aus dem Rucksack...1.404 m, das kann gar nicht sein,
ich arbeite hier wie wahnsinnig und komme nicht höher. Ich stell'
den Tacho um auf km, durchhalten, nicht auf die Höhe schauen, 1 km
lang nicht drauf schauen...500 m, wie hoch bin ich jetzt? Nicht drauf
schauen 600 m, ich muss wissen wie weit es noch ist...es regnet, ich habe
keine Lust mehr, ich schaue nach 1.410m...Oh Mann!"
Wir warten ein paar Minuten
im Nebel und beginnen dabei die sich nun verbreitende Kälte zu spüren.
"Ich muss weitergehen, sonst kühle ich vollkommen aus,"
gesteht Rolf.
Langsam machen wir uns auf den Weg. Der Höhenmesser sagt uns, dass
es nicht mehr weit sein kann. Und tatsächlich erreichen wir nach
sechs oder sieben weiteren Kehren die Weidener Hütte.
Carsten:
"Ein Licht, 1.450 m, immer noch 250 m. Eigentlich könnte es
ein Ende haben...ein Ruf aus dem Nebel...."
Kaum haben wir die Räder
untergebracht kommt auch schon Carsten aus dem Nebel. "Das ist aber
noch nicht die Weidener Hütte?" fragt er. Durch den Regen hat
sich sein Höhenmesser manipuliert. Er ist bergauf gefahren und bergauf
gefahren und hat sich scheinbar kaum nach oben bewegt. Das hat ihn völlig
fertig gemacht. Dazu kam ein Problem mit seinem rechten Knie, dass sich
noch die ganze Tour durchziehen sollte.
Durch die erleuchteten Fenster sehen wir weitere Biker und die Wirtsleute
im Inneren der Hütte.
Um 22:00 Uhr trete ich als erstes in die Hütte. Die Wirtin schaut
anerkennend auf ihre Uhr. "Von woher kommen Sie denn heute?"
fragt sie. Ich atme die warme, heimelige Hüttenluft in vollen Zügen
ein und antworte: "Von Mittenwald über das Lamsenjoch."
"Von Mittenwald über das Lamsenjoch bis hier her an einem Tag
- Ihr seid ja verrückt," erklärt sie.
Ich fasse es befriedigt als Lob auf und setzte mich in die warme Gaststube.
Dave, Rolf und Carsten folgen mir.
Die große Auswahl haben wir beim Essen zu dieser späten Stunde
nicht mehr. Speckknödelsuppe oder Käseknödelsuppe lautet
das Angebot. Es schmeckt großartig! Ein letztes Mal für diesen
Tag hole ich die Kamera hervor und filme drei geschaffte aber zutiefst
zufriedene Gesichter.
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