Dienstag, Zweiter Tag

Regenfahrt nach Südtirol

Um sieben Uhr sind wir wieder fit. Das Matratzenlager war uns eine gute Heimat. Beim Hinuntergehen in die Gaststube spüre ich den Muskelkater in den Oberschenkeln. Carsten kommt wegen seinem angeschlagenen Knie kaum die Treppen hinunter.
Das Frühstück und eine freundliche Wirtin entschädigt etwas. Der Blick nach draußen lässt hoffen. Es ist klar und morgendlich frisch mit wenigen Wolken.
Die Wirtin schätzt, dass wir heute Glück mit dem Wetter haben werden. Sie gibt mir freudig ein kurzes Interview während sich die ersten Mountainbiker aus der Hütte und auf den Weg machen.
Beim Aufstieg zum Geiseljoch überholen wir die Biker kurz darauf wieder. Mehrmals filme ich bis wir oben sind. Und dann kommt wieder der Nebel. Mit Aussicht ist's nichts.

Wir machen Fotos. Carsten ist ganz erfreut von dem Schneefeld unterhalb des Jochs und fährt mehrmals mit dem Rad durch. Es wird kälter.
Wir fahren ab und der Regen setzt ein. Stärker als am Tag zuvor und anhaltender. Wir halten unser Tun langsam für völlig bescheuert.

Carsten:
"Es ist saukalt, und dann noch hier sinnlos Höhenmeter auf Schotter vernichten, sicher gibt es hier auch Trails, die wir bei gutem Wetter hätten nehmen können..."

Der Schotterweg wird unberechenbar. Es ist nur noch 5 Grad warm. Wir wollen die Fahrstraße nach Lanersbach über einen Wanderweg abkürzen und landen in einer Baustelle.

Carsten:
"Da ist ein Wanderweg nach Lanersbach ausgeschildert und wir finden ihn nicht, das kann doch nicht sein. Ich latsche zwischen dröhnenden Baggern im Schlamm umher und suche den Trail...wegebaggert, versteckt zwischen all dem Zeug hier? Na egal, macht vermutlich eh keinen Sinn bei dem Wetter, also wieder zurück, den Berg hoch und auf Teer runter"

Das motiviert bei diesem Wetter nicht gerade. Entsprechend langsam kommen wir vorwärts. In Lanersbach "überfallen" wir erstmal einen Spar-Laden. Wir kaufen Brot, Salami, Käse und Gummibärchen ein.
Carsten ist überzeugt davon, dass es aufreißt. Tatsächlich tröpfelt es nur noch leicht. Ein Skigebiet im Sommer und dann noch im Regen. Es gibt kaum etwas, was trostloser aussieht. Die Straßen werden für die nächsten Touristenströme erneuert. Überall wird gebaut. Überall Lehm, Schmutz und kitschige Hotels mit vielen Sternchen.
In Hintertux sucht Carsten nach einem Fahrradladen, nachdem er eine Hinweistafel gesehen hat. Der Kopf einer Innensechskantschraube an der Scheibenbremse hat sich beim Versuch des Öffnens gespalten. Der Wechsel des Belages ist nun unmöglich.
Wir anderen warten unter einem Vordach. Wir wollen uns nirgendwo reinhocken. Die Gegend ist zu teuer, sie gefällt uns nicht und wir wollen nicht faul werden.

Carsten:
"So was nennt sich Bike-Service? Der dilettantische Typ in seiner düsteren Schmuddelwerkstatt im Intersport in Hintertux hat wohl noch nie ne Scheibenbremse gesehen, von anständigem Werkzeug ganz zu schweigen. Schade um die Zeit, die ich hier vertrödelt habe und der Belag ist immer noch nicht gewechselt...normal ist das ja nie ein Problem, daher hatte ich das zu Hause ausgelassen und die neuen Beläge nur eingepackt...

Nachdem Carsten unverrichteter Dinge zurück ist fahren wir dem ersten Wegweiser Richtung Tuxerjoch nach. Es sollte der Falsche sein. Der Fahrweg geht schon beim Ortseingang ab. Wir müssen noch mal umkehren. Es hört nicht auf zu regnen. Während des Aufstieges weiß ich nicht, ob die Nässe überall am Körper durch die Regenjacke hindurch oder von mir kommt. Zum Glück ist die Forststraße gut fahrbar. Wir machen schnell Höhe und über der Baumgrenze öffnet sich auf einmal der Himmel und die Sonne kommt hervor.
Gegenüber sehen wir den Hintertuxer Gletscher mit den Skifahrern.

An der oberen Liftstation auf unserer Seite machen wir eine kurze Rast. Von dort aus sind es noch 300 Höhenmeter bis zum Joch. Die Hütte dort lassen wir aus Zeitgründen aus. Wir wollen uns im Tal noch mit dem Filmteam treffen. Und wir wissen nicht, wie lange das Wetter hält.

Der Wanderweg vom Tuxerjoch nach Kasern ist ein schmaler Pfad der sich im oberen Teil zwischen dem Geröll hindurch windet und mit steinernen Absätzen durchzogen ist. Im unteren Teil wird er zu einem klassischen Wurzeltrail.

Carsten:
"Früher war das Tuxer Joch kein beliebter Pass, da die Abfahrt eigentlich unfahrbar war. Nun zeigt sich ein anders Bild, der Trail wurde anständig ausgebaut und ist traumhaft zu fahren. Schöne Spitzkehren, verblockte Schlüsselstellen und alles auf einem handtuchschmalen Pfad. Zum Glück ist der Weg relativ trocken, da es auf dieser Seite des Berges kaum geregnet hat..."

Bis auf eine Ausnahme, eine steile Treppe mit schief zueinander stehenden Holzstufen, ist er komplett fahrbar und wunderschön. Die vielen Spitzkehren und Absätze machen ihn zwar technisch anspruchsvoll, doch trotzdem kann man mit etwas Glück in einem "flow" hinunterkurven.
Ich fahre als Erster in den Trail und bekomme immer mehr Lust auf Geschwindigkeit und dem Herumzirkeln um die Kurven und um die Steine. In einer spitzen Rechtskehre überschätze ich mein Fahrkönnen dann doch etwas. Der Rucksack, durch die Kamera schwerer als sonst, tut sein Übriges und so werde ich über den Lenker gehoben.
Das Fallen im Überschlag kann man mit etwas Übung in der Regel relativ gut abfangen. Etwas schwieriger ist es in einem Gelände, bei dem überall kindskopfgroße, grobe Steine herumliegen.
Ich falle über den Lenker und rolle leicht über den Rucksack ab. Um die Kamera brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Ich hatte sie gut in einer mit Schaumstoff ausgeklebten Kunststoffbox untergebracht. Mein Ellenbogen schlägt jedoch auf einem Stein auf.
Nach dem Sturz schaue ich mich um. Die anderen Biker sind noch mehrere Kehren über mir. Dave packt gerade seinen Fotoapparat aus. Die Sonne steht am Himmel.
Schnell baue ich die Kamera auf um die Drei beim Abfahren zu filmen. Durch Regenjacke und Armlinge geschützt habe ich mich nicht verletzt.

Der Trail bleibt atemberaubend schön. Kurz nach der Baumgrenze kommen einige Holzstufen. Sie sind noch feucht vom Regen und so steigen wir alle ab.

Dave:
"Wegen der Fotos bin ich der letzte unserer Gruppe. Auf einmal steht Carsten mit seiner Kamera vor mir an einer Schlüsselstelle, hinter der einige Meter später die erwähnte Treppe beginnt. Über die ersten rutschigen Rundhölzer komme ich noch gut rüber, doch die nächste Stufe ist etwas höher und die restlichen ganz schön steil. Ne, nicht auf dem Alpencross! Ich komme gerade noch zum Stehen und blicke auf zwei Wanderer hinab, die wohl schon mit einem spektakulären Sturz gerechnet hatten."

Zwei entgegenkommende Wanderer grüßen uns freundlich und schauen uns nach, wie wir den Weg weiter fahren. Ich freue mich. Endlich macht das alles wieder einen Sinn. Nach fast zwei Tagen Regen nun dieser Trail, die Sonne und freundliche Menschen um uns herum.
So kommen wir am Kaserner Bach entlang ins Schmierntal. Das Filmteam ist schnell zur Stelle und so können wir noch ein paar Einstellungen drehen.
Wir suchen uns dazu eine Brücke aus, hinter der unsere Abfahrt mit vom Tuxerjoch zu sehen ist. Die Tuxer Alpen sind nun durch die Wolken von der Sonne bestrahlt.

Dave:
"Nach der letzten Aufnahme warten Carsten und ich an einem Parkplatz auf unsere Filmcrew, während Roland und Rolf mit ihnen die weitere Planung durchsprechen. Carsten versucht noch irgendwie an seine Bremsbeläge zu kommen, als ich einen Drop entdecke. "Hey Carsten, schau mal was ich gefunden habe!" Als ich auf dem Asphalt lande gibt es ein metallisches Geräusch. Den Klang kenne ich doch. Mist, am Hinterrad ist tatsächlich eine Speiche gebrochen und ich habe keinen Ersatz dabei! Na, zum Glück bin ich mit Downhill-Felgen unterwegs. Die müssten das ja locker wegstecken. Ich spiele noch ein wenig mit der Speichenspannung, dann geht es weiter - mit 31 Speichen."

Nach etwa zwei Stunden fahren wir weiter das Schmierntal hinab. Schon wieder ist es nach 18 Uhr und wir überlegen ob es noch Sinn macht weiter zu fahren. Doch hier zu übernachten würde uns am nächsten Tag eine noch größere Etappe bescheren.
Und was das Wetter am nächsten Tag noch für uns bereithalten wird ist auch unklar. Ich will unbedingt noch an diesem Tag über den Brenner. In Südtirol ist die Regenwahrscheinlichkeit wesentlich geringer.
Das Tal hinab kann man der alten, jetzt für den Autoverkehr gesperrten Straße folgen. Die ausgebaute Trasse windet sich steil am Rand des Tals hinauf. Überflüssige Höhenmeter, die man sich sparen kann. Zudem ist die alte Straße, die dem Bachlauf folgt landschaftlich viel schöner. Kurz vor der Brennerstraße gehen beide Straßen dann wieder zusammen.
Mit dem Verkehr haben wir um diese Uhrzeit Glück. Auf der Brennerstraße ist kaum was los. Ein kleines Stück fahren wir zu viert hintereinander. Dann müssen wir noch mal stoppen, um die langen Trikots auszuziehen. Es wird doch noch richtig warm am Abend!
Bis zum Brenner selber radele ich nun voraus, um am Brunnen gegenüber des Bahnhofs auf die anderen zu warten. Nur wenige Autos überholen mich und mit den leer stehenden Grenzposten wirkt es hier fast etwas ausgestorben. Alle Geschäfte haben um diese Uhrzeit schon geschlossen. Während ich auf die anderen warte kommt aus der Bahnhofshalle nur eine einzelne junge Frau, die schnell wieder in einer Seitenstrasse verschwindet.
Ich fülle meine Trinkflaschen auf und sehe dann auch schon Carsten heranradeln, gefolgt von Dave und Rolf.
Bevor wir weiter fahren, rufen wir noch bei der Enzianhütte an um unser Kommen anzukündigen. Zudem hatten wir auf der Karte einen Weg gesehen, der kurz nach dem Brenner zur Enzianhütte führte. Es gefiel uns sehr auf ihn auszuweichen statt auf der Straße bis zu der Abzweigung des Fahrweges kurz nach Brennerbad zu fahren.

Carsten:
"Klasse, schon wieder ne Nachtnummer. Das wird heute schon wieder knapp die Unterkunft bei Tageslicht zu erreichen. Der Zustand meines Knies hat sich heute im Laufe des Tages weiter verschlechtert...zum Glück habe ich noch ein paar Tropfen Voltaren in der Tube"

Doch hier wird uns von der Wirtin der Enzianhütte abgeraten. Das sei nicht so gut zum Biken. Und es war ja nun auch schon wieder spät und der Anstieg zur Hütte würde sicher noch etwas Zeit kosten.
Es wäre ja schon schön einmal bei Tageslicht anzukommen.
So heizen wir die Straße hinab bis Brennerbad und dann den Fahrweg hinauf. Die Enzianhütte liegt auf 1.904 Meter über dem Meer. Gut 600 Höhenmeter geht es nun noch mal hinauf. Eine Stunde sollten wir dafür brauchen. Der größte Teil des Weges ist geteert und führt mit gleichmäßiger Steigung in Serpentinen durch den Wald. Kurz vor der Hütte habe ich dann noch Zeit einige Videoaufnahmen im Abendlicht zu filmen. Die Landschaft ist im warmen Rot der untergehenden Sonne getaucht.

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