Mittwoch, Dritter Tag

Mussolinis Militärwege

Der Morgen des dritten Tages bringt uns das endgültige Ende der Regenzeit. Im Morgenlicht können wir auf die Brenner Grenzkammstraße am gegenüberliegenden Hang schauen. Sie windet sich von Brennerbad durch mehrere Tunnel hinauf zum Sandjöchl, direkt auf der Österreichisch-Italienischen Grenze.
Mussolini ließ diese Straße ähnlich wie die Wege auf das Schlüsseljoch und das Pfundererjoch, die wir an dem Tag noch befahren sollten, anlegen um im Kriegsfall Südtirol zu verteidigen. Sie sollten jedoch zu militärischen Zwecken nie gebraucht werden. Dafür erfreuen sich die Mountainbiker heute über die größtenteils bestens befahrbaren Wege.

Beim Frühstück kommen wir mit Marco ins Gespräch. Ein Alpencrosser aus der Schweiz, der sich am Vortag von Innsbruck aus auf den Weg gemacht hat. Er ist alleine unterwegs und so beschließen wir den Tag gemeinsam zu fahren.
Ich nutze noch vor der Losfahrt die Gelegenheit und mache ein Interview mit ihm. Dann geht es hinauf zum Schlüsseljoch.
Ohne Gepäck ist der Weg dorthin fast ganz fahrbar. Die Steine in den ausgewaschenen Wasserrinnen machen uns jedoch stark zu schaffen. So schieben wir einige Passagen hinauf. Die Morgensonne strahlt uns an und die Sicht zeigt uns rundum ein schönes, fast wolkenloses Panorama. Wir nutzen die Gunst der Stunde für Video- und Fotoaufnahmen.
Marco bleibt trotzdem bei uns und erträgt geduldig die vielen Fahrpausen.

Rolf:
Na geht doch! Gestern war das seit dem Tuxer Joch ja schon ganz anständig, aber so soll ein Alpencross sein! Die Auffahrt vom Vorabend mit den tollen Blicken auf den Brenner Grenzkamm ist noch nicht ganz verarbeitet, da stürmen diese Eindrücke der Morgenbilder auf uns ein.

Carsten:
"Ich kann gar nicht mehr fahren, der stechende Schmerz im Knie macht es unmöglich die steilen Rampen des Schlüsseljoches hinauf zu fahren...ich muss fast den gesamten Anstieg schieben...wenigstens passt das Wetter heute. Endlich Sonne und nicht den ganzen Tag lang frieren"

Am Schlüsseljoch angekommen können wir schon sehen, was uns als nächstes erwartet. Der Blick über das Tal mit dem kleinen Ort Fußendrass lässt einen direkt auf die Militärstrasse blicken, die sich gegenüber zum Pfunderer Joch hinauf windet.
Es ist wohl einmalig in den Alpen, dass man auf diese Weise von einem Pass die ganze Zeit auf den kommenden Pass sehen kann. Später, beim Anstieg auf das Pfunderer Joch können wir dann stets zum Schlüsseljoch und die Militärstrasse schauen, die wir nun hinunter fahren sollten.
Die Straße ist aus grobem Schotter mit einigen dicken Steinen drin und lädt, entsprechende Federung vorausgesetzt, zum Geschwindigkeitsrausch ein.
Neben dem Weg sehen wir die Alpenflora in ihren schönsten Zügen, u. a. auch das erste Edelweiß der Tour.
Während ich vom Joch aus die anderen vier Biker filme rauschen diese die Piste hinab bis zu einer markanten Kurve. Ich folge nach wenigen Minuten.
Nach weiteren Film- und Fotopausen geht es dann hinab. Einen Moment lang fahre ich an der Spitze, bis Dave und Carsten fast doppelt so schnell, wie ich es mir selber getraue an mir vorbei ziehen.

Carsten:
"Hammerabfahrt, Daves Z1 frisst alles, meine in die Jahre gekommene Votec Gabel leitet das Gerüttel des groben Trails fast ungefiltert in meine Handgelenke...wird Zeit das der Schrott ins Alteisen kommt...Solange es gleichmäßig bergab geht macht es super Spaß hier, aber sobald ich treten muss habe ich im Knie das Gefühl, irgendwer würde mit einem Messer darin herumstochern..."

Hinter ihnen fliegen kleine Steinchen durch die Luft und schon sind sie hinter der nächsten Kurve verschwunden. Bald darauf kommen wir in den Wald.
Zwei Kehren weiter habe ich Dave und Carsten dann wieder eingeholt. Dave hat sich einen Durchschlag am Reifen zugezogen.
Rolf und ich fahren weiter, um noch ein paar Einstellungen zu drehen. Dabei komme ich an mehreren kleinen Steinbrücken vorbei, die über eine Wasserrinne führen. Dort baue ich die Kamera auf und warte auf die Anderen. Nachdem die Einstellung gedreht ist, geht es mit fortan ungebremster Geschwindigkeit hinab nach Fußendrass.

Dave:
"Naja, so war es zumindest gedacht, doch schon nach 500 Metern habe ich den nächsten Durchschlag! Diesmal kann ich es mir aber nicht erklären. Ich hatte gar nichts gemerkt und es gab auf dem Stück auch keine größeren Steine, die einen Snake Bite gerechtfertigt hätten. Egal, jetzt wird der Reifen konsequent auf drei Bar aufgepumpt. Die nächsten Tage können mit dem prallen Reifen zwar etwas unbequemer werden, doch ist das gar nichts gegen die vier Bar mit denen Marco fährt!"

Dafür hat er sich allerdings eine schöne Stelle ausgesucht. Hier führt der Weg durch einen kleinen grob ausgesprengten Tunnel. Während Dave und Rolf das Fahrrad reparieren erkunden Carsten und ich mit Kamera und Fotoapparat die Gegend. Im unteren Teil ist der Schotter wesentlich feiner und auch die großen dazwischen liegenden Steine fehlen.

Wir hatten erwartet in Fußendrass noch etwas zu Essen besorgen zu können. Doch das Dorf besteht wirklich nur aus ein paar Häusern. Wir beschließen, dass uns Müsliriegel für den Aufstieg reichen sollten. Während ich mit Marco vorne weg fahre, fragen Dave und Rolf kurzfristig noch bei einem angrenzenden Gehöft nach Wasser und Brot. Ersteres bekommen sie dann auch von der freundlichen Bewohnerin, die ihnen sogar die Flaschen im Haus auffüllt.
1.200 Höhenmeter geht es von Fußendrass hinauf zum Joch. Bis zu einer alten zerfallenen Steinbrücke ist die alte Militärstraße ein gut erhaltener Schotterweg, der sich mit gleichmäßiger Steigung und vielen Serpentinen nach oben windet.
Die Sonne brennt auf uns hinab wie als Entschädigung für die verregneten ersten beiden Tage. Hinter uns sehen wir immer wieder zwischen den Bäumen hindurch auf die letzte Abfahrt vom Schlüsseljoch.
Marco ist viel unterwegs und körperlich super fit. Er war erst kürzlich für drei Monate zum Klettern in Peru und fährt den Alpencross als Training für den berüchtigten Cristalp Marathon! Neben mir gibt er ein kräftiges Tempo vor während wir uns Serpentine für Serpentine nach oben arbeiten. Der Treffpunkt mit den anderen liegt knapp oberhalb der Baumgrenze bei einem großen mannshohen Stein, der links neben dem Weg liegt.
Dort angekommen lege ich mich erstmal ins Gras. Wir befinden uns nun auf 1.850 Meter über dem Meer. Das Pfunderer Joch liegt bei 2.568 Metern.

Carsten:
"Eigentlich habe ich mir dieses Jahr vorgenommen das Pfunder Joch komplett hoch zu fahren...statt dessen schiebe ich schon unten im Wald auf der eigentlich locker zu fahrenden Schotterpiste. Aber lieber heute hier das Knie etwas schonen als Übermorgen die Tour abbrechen zu müssen. Zum Glück weiß ich Dave und Rolf noch hinter mir und halte die Grupppe somit nicht auf"

Kaum habe ich die Kamera aufgebaut kommt Carsten um die Ecke. Wir beschließen zu dritt noch ein Stück weiter hinauf zu fahren. Marco macht sich sogleich auf den Weg, während Carsten noch einige Fotos schießt. Ich beschäftige mich noch etwas mit Videoaufnahmen und schon sind auch Dave und Rolf wieder bei uns.
Kurz vor der eingestürzten Brücke wird der Weg schmäler und die Steine in ihm größer. Ein Stück geht es fast eben den Trail entlang.

Von der Brücke, von der vor wenigen Jahren noch die Hälfte stand ist kaum noch was übrig. Die Fundamente liegen flach im Wasser. Wir schultern unsere Fahrräder und balancieren über die Trümmer an das andere Ufer.
An einer Stelle, an der zwischen den Brückentrümmern eine große Lücke klafft hat glücklicher Weise jemand ein Brett darüber gelegt.

Von jetzt an ist die Militärstraße nur noch ein schmaler Fußweg. Die Serpentinen werden enger und die Steigung extremer. Mehrmals queren wir noch den Bach, der nach oben hin aber viel kleiner ist als dort wo die Brücke einst stand und somit einfach durchfahren werden kann.
Die anderen sind mir nun weit voraus. Ich habe mich durch die Schönheit der Natur etwas aufhalten lassen. An meiner Haut spüre ich, dass es nötig gewesen wäre mich heute mit Sonnencreme einzuschmieren. Nach den zwei Tagen Regen hatte ich so was wie Sonne und schönes Wetter schon ganz verdrängt.
Leider ist meine Sonnecreme aus Platzgründen bei Carsten im Rucksack. Und den sah ich gerade am Horizont hinter einer weiteren Kurve verschwinden.
Nunja, das sollte auszuhalten sein. Zum Glück war ich durch das Fahrradfahren in diesem Jahr schon etwas braun und bin allgemein nicht so sonnenempfindlich. Ich esse vor dem letzten Teil des Anstiegs noch mein letztes Brötchen und ein Stück Käse, dass noch vom Vortag übrig ist.

Dann geht es weiter. Bald durchquere ich mein erstes großes Schneefeld der Tour. Das Joch selber ist mehrere Meter unter dem Schnee begraben. Auf der Kante stehend haben wir einen wunderbaren Ausblick auf die mit Schneefelder übersäte Abfahrt, die uns nun bevor stand.
Gemeinsam machen wir uns nach Fotos und Videoaufnahmen über die letzten Gummibärchen aus Rolfs Rucksack her.
Marco verabschiedet sich hier. Er war schon vor uns oben angekommen und fror nun in den dünnen Bikerklamotten.
Die Kulisse ist wunderbar und endlich die Sonne. Den Beginn der Abfahrt meistern wir noch gemeinsam mit Marco, dann trennen sich unsere Wege.
Der Weg vom Pfunderer Joch ins gleichnamige Tal ist einer der schönsten Singletrails der Alpen. Während wir oben noch mit Schneefeldern kämpften, kamen wir bald über saftige Wiesen und Bachläufe. Wenn man beständig in der Falllinie bleibt, können Schneefelder richtig Spaß machen. Doch wehe man verlässt diese. Im besten Falle bleibt man stehen, im schlechtesten gibt es einen Freiflug über den Lenker.

Carsten:
"Der Trail sieht besser aus, als ich befürchte habe. Als ich 1997 das erste Mal hier runter bin waren noch nicht viele Biker hier, inzwischen fahren hier jedes Jahr Tausende durch. Nach einer Bachdurchfahrt kommen wir auf eine Kuppe und blicken auf das, was uns noch erwartet: Ein Trail der Spitzenklasse mit unzähligen Spitzkehren...So einen Blick hat man selten auf einen Trail und Roland baut die Kamera auf, um uns bei der Abfahrt zu filmen"

Oben ist der Weg sehr sandig. Mit der Vorderbremse muss man hier sehr sparsam umgehen. Weiter unten dann verwandelt sich der Weg immer mehr in einen Wald und Wiesentrail mit vielen spitzen Kurven die eine Freude für Fahrtechnikkönner darstellen.

Man kommt bei einer kleinen Alm raus, die auch bewirtet ist. Wir fahren jedoch weiter. Ab hier geht ein Fahrweg ins Tal. Dave und Carsten finden noch einen Trail, der einige hundert Meter parallel zum Fahrweg nach unten führt. Während die beiden in diesen einbiegen rasen Rolf und ich den Schotterweg nach unten. Fünf Minuten später sind wir wieder beisammen und fahren ab, auf der Suche nach etwas zu Essen. Es ist nun schon kurz nach siebzehn Uhr.

Rolf:
"Der Forstweg wird im unteren Ende nochmal steil und hat zwei betonierte Fahrspuren. Ich nehme eine von beiden. Plötzlich kommt mir ein Motocrosser entgegengeschossen. Obwohl ich nicht sonderlich schnell bin verfehlen wir uns nur knapp. Was muss die Knalltüte auch auf meiner Seite fahren…"

Carsten:
"Ich schone meine Hinterradbremse, der Belag ist ziemlich fertig. Auf der Schotterpiste wird nur noch vorne gebremst...jetzt stinkt´s halt ein wenig....
Den ganzen Tag noch nichts Richtiges gegessen, jetzt ne ordentliche Portion Nudeln, das wär´s. In dem Kaff hier gibt´s leider nichts. Jetzt wird es aber Zeit, was zu bekommen..."

An einem Sparladen werden wir schließlich fündig. Wir kaufen eine Brotzeit ein und wollen uns auf eine anliegende Wiese legen. Die Verkäuferin rät uns aus der anliegenden Überdachung eines Feuerwehrgebäudes eine Bierbankgarnitur zu nehmen. Freudig folgen wir dem Rat und machten es uns gemütlich.
André und Michael brauchten eine Weile, bis sie uns finden. Sie haben sich in den Tälern verfahren und erreichen uns erst um halb sieben.

Rolf:
"Unser Filmteam staunt das erste Mal so richtig, welche Mengen Essen vier Mann nach so einer Tour in kurzer Zeit vernichten. Solange noch etwas da ist wird gegessen, egal ob Brot, Wurst, Bergkäse, Tomaten, Mozarella, Joghurt oder Schokolade und Kekse."

Carsten:
"Beim Aufstieg ist mir eine Idee gekommen, wie ich meine Bremsbeläge wechseln kann. Ich säge den Sicherungsstift der Marta einfach durch und fädle den Belag heraus. Dann wird die Sache mit einem Draht gesichert und fertig. Zum Glück ist im Begleitfahrzeug eine Säge, so dass ich die Reparatur durchführen kann..."

Wir beschließen den Abend gemeinsam zu Biwakieren. Wir wollen noch bis Montal fahren.
Ins Pustertal sind wir schnell abgefahren und queren die stark befahrene Straße um den Radweg am anderen Ufer der Rienza zu nehmen. Dieser ist teilweise etwas verwirrend beschildert und an einer Stelle aufgrund eines Erdrutsches und durch eine Baustelle unterbrochen. Wir kämpfen uns trotz allem durch und genießen somit eine sehr schöne Strecke, die uns nach einem kurzen Tragestück sogar mit einem Singletrail belohnt.
Von Ehrenburg an geht es dann noch mal 150 Höhenmeter hinauf, über einen Hügel nach Montal.
Es ist nun kurz nach zwanzig Uhr. Endlich mal ein Ankommen bei Tageslicht. Am Brunnen des Dorfes laben wir uns. Dann gehen wir in das Gasthaus Alpenrose in der Ortsmitte um Pasta zu essen.
Es ist Mittwoch und eigentlich Ruhetag. Doch wir bekommen trotzdem noch etwas aufgetischt.
Michael und André lassen wieder auf sich warten. Sie besuchen eine Bekannte in Bruneck, um die nächste Nacht bei ihr bleiben zu können. Ich mache mir Sorgen, ob sie noch etwas zu Essen bekommen, wenn sie so spät hier auftauchen. Sie kommen erst um viertel vor neun an und da gibt es im dem Gasthof leider tatsächlich nichts mehr zu essen.
Das war dann wohl nichts mit dem gemeinsamen Verbringen des Abends. Carsten hatte zum Glück schon frühzeitig eine Wiese ausgekundschaftet, auf der wir nächtigen konnten. Er zeigt den Beiden den Platz und dann fahren sie wieder mit dem Auto gen St. Lorenzen um dort noch etwas in den Magen zu bekommen.
Wir vier nehmen noch schnell die Schlafsäcke aus dem Auto und legen uns bald nieder.
Die Nacht ist lau und es bleibt völlig trocken. Morgens um fünf wird es etwas kühl. Doch die Schlafsäcke sind OK.
Die Sterne lächelten uns die Nacht über an und die nahe gelegene Straße bleibt des Nachts ruhig.

Dave:
Nachts wache ich mehrfach auf und merke zum Glück noch frühzeitig wie gereizt meine Mandeln auf die kalte Luft reagieren. Ich versuche wiederholt den Kopf möglichst gut im Schlafsack zu verstecken. Irgendwann wird es so frisch, dass ich auch die Beinlinge wieder hochziehe. Ich hatte sie zum Glück nicht ausgezogen, war ich doch von vorneherein etwas skeptisch ob meines leichten Schlafsacks. Ich hatte ihn bisher nur auf Besuch zum Übernachten benutzt - drinnen wohlgemerkt! Carsten ergeht es lustiger Weise genau anders herum - er liegt schweißgebadet in seinem Himalaya-Schlafsack.

 

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