Freitag, Fünfter Tag

Der Rahmenbruch

Am Morgen des fünften Tages sehe ich mir zuerst die Festungsanlage neben der Dürrensteinhütte an. Zu Kriegszeiten war sie mit zwei Feldkanonen mit dem Kaliber 9cm, zwei Panzermörsern Kaliber 15cm und zwei Belagerungshaubitzen besetzt.
Zu Kriegsbeginn lag die Hauptverteidigungslinie der Österreicher an der Plätzwiese. Von hier aus und von einem Bergpfad von Landro, drangen sie am 07.Juni 1915 unter Leutnant Wilhelm Bernhard über die Flanke zu dem kriegswichtigen Monte Piano vor, um die nur 12 km davon entfernte Pustertaler Bahnlinie mit schweren Steilfeuergeschützen beschießen zu können. In dem erbarmungslosen Kampf blieb kaum ein Alpini am Leben. Schon wenige Wochen nach der Erstürmung setzte der schwere Beschuss durch die Italiener ein. Zwei Bataillone griffen an und wurden erfolgreich abgewehrt. Bis zum Ende des Krieges blieb die Nordkuppe des Monte Piano in österreichischer Hand.
Während sich vor wenigen Jahren noch jede Menge Müll in der Festungsruine Plätzwiese häufte, ist sie nun leer geräumt und es scheint auch als würde etwas daran restauriert werden. Ein Schild weist auf "Privatbesitz" hin.
Immer mehr alten Festungen wurden in den letzten Jahren wieder hergerichtet.
Die Wirtin der Dürrensteinhütte weiß wenig über das Werk Plätzwiese. Sie denkt nur manchmal daran, wie die armen Soldaten mit ihrer unzureichenden Ausrüstung im Winter damals gefroren haben müssen.

Um den Weg ins Knappenfusstal zu nehmen müssen wir zuerst ein Stück den Kiesweg zurück zum Hotel Plätzwiesen. Der Trail hinunter ist im oberen Teil sehr steinig und hat einige kniffelige Passagen mit Stufen, bei denen man vor allem bei Feuchtigkeit lieber absteigen sollte.

Carsten:
"Die Abfahrt hat es im ersten Teil echt in sich. Schmal und steil fällt ein verblockter Trail in eine Schlucht ab. Ich fahre voraus, an einer steilen Steintreppe verweigere ich, der Abgrund links neben der Schlüsselstelle sieht nicht gerade verlockend aus ... Dave schaut sich die Stelle erst einmal zu Fuß an und holt die Digicam raus... OK, ich probier es. Hochschieben, umdrehen...der Abgrund, der Kopf lässt es nicht zu...Roland filmt. Noch einmal, ich fahre die Treppe fast ganz runter, wieder sagt der Kopf nein. Na ja lassen wir das. Dave geht wieder hoch, fährt runter...alle Achtung, auch wenn er im Eifer des Gefechts den Rucksack unten liegen gelassen hat."

m mittleren und unteren Teil ist der Weg jedoch bestens befahrbar. Dave fährt selbst die steilsten Stufen hinab.
Die morgendliche Frische weicht schnell der Kraft der Sonne und so machen wir kurz nach dem Überqueren des Baches eine Pause um uns umzuziehen und Sonnencreme aufzutragen.
Unten im Tal an der Hauptverkehrsstraße angekommen überqueren wir diese und nutzten den parallel dazu laufenden Radweg. Er führt auf einer alten Eisenbahntrasse bis nach Cortina D´Ampezzo. Es geht stetig leicht bergab und wir lassen uns nicht viel Zeit. Neben dem Weg verläuft der Rio Rufredde. Zuerst mit ruhigen Seenlandschaften später stürzt er sich dann in einer Schlucht hinab.
Wir folgen der Trasse und kommen durch einen grob ausgesprengten Tunnel, der mit von der Decke hängenden Lampen ausgeleuchtet ist. Jede Menge Fahrradfahrer sind hier unterwegs.
In Cortina d´Ampezzo besuchen wir als erstes einen Fahrradladen. Dave sucht nach einer Speiche und Rolf schaut nach einem neuen Hinterreifen. Wir lassen uns nur kurz aufhalten und fahren dann direkt zu einem Supermarkt um eine Brotzeit einzukaufen. Ich warte so lange draußen bei den Fahrrädern. In der Stadt ist es super hektisch und stickig. Auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt herrscht Verkehrschaos genau wie auf der Kreuzung fünfzig Meter weiter, an der ein Verkehrspolizist versucht Ordnung zu halten. Ich will nur noch raus hier. Wieder in die Berge, wieder in die Natur.

Carsten:
"Ich habe mir in einer Apotheke eine neue Tube Voltaren gekauft, mein Knie sieht witzig aus mit dem Lila der Taschentuchverpackung...aber es hat gewirkt, heute geht es schon viel besser..."

Kurz hinter Cortina treffen wir einen weiteren Alpencrosser. Ein paar Meter fahren wir zusammen, dann machen wir eine kurze Pause zum Essen. Was wir jetzt zu uns nehmen, müssen wir später nicht auf den Berg tragen.
Dave kennt die Wege um Cortina d´Ampezzo aus einem früheren Besuch. So können wir uns von ihm leiten lassen. Was aber nicht verhindert, dass wir auf einem schmalen Weg eine Abzweigung verpassen und uns verfahren. Doch schnell bemerken wir, dass das nicht stimmen kann. Der Weg geht auf einmal steil bergab während wir uns eigentlich im Aufstieg befinden sollten. Nachdem wir umgedreht sind, sehen wir dann auch den kleinen Pfad, den wir lang mussten. Bald kommen wir dann auch wieder auf den Fahrweg, den wir abkürzen wollten.

Einige Hundert Höhenmeter Meter weiter oben treffen wir wieder auf den einsamen Alpencrosser, den wir kurz hinter Cortina d´Ampezzo getroffen hatten. Wir füllen am Rio di Federa gemeinsam die Trinkflaschen auf und ich interviewe ihn. Er heißt Bernhard und kommt aus Ulm. Bisher ist er nicht viel Mountainbike gefahren und hatte sich als Einstieg gleich einen Alpencross vorgenommen. Er ist ganz begeistert von diesem für ihn neuen Sport.
Während wir weiter aufwärts fahren, brennt die Sonne erbarmungslos vom Himmel. Ab der Malga Federa wird der Weg immer steiler und steiniger und ist mit Rucksack kaum noch zu fahren.
Glücklich erreichen wir schließlich den See am Croda da Lago. Wir umrunden ihn zur Hälfte, stellen die Räder beiseite und springen in den kühlen See. Tut das gut! Auf einem am Ufer stehenden Felsbrocken essen wir eine Kleinigkeit.

Rolf:
Schon wieder so ein gigantischer Platz für eine Pause. Obwohl am anderen Ende des Sees etwa zwanzig Wanderer sitzen und in dreihundert Metern noch eine Hütte steht, ist es wunderbar ursprünglich auf unserem Felsen. Und das man in dieser Höhe sogar baden und kleine Fische füttern kann hätte keiner von uns gedacht.

Weiter geht es einen schmalen Kiesweg am Hang entlang zur Forcella Ambrizzola. Er macht nur noch 200 Höhenmeter und ist angenehm zu fahren. Die Aussicht zurück auf den See und das Panorama um uns ist grandios.

Ich filme die Gruppe aus unterschiedlichen Einstellungen und bleibe daher etwas zurück. Die drei anderen sind um eine Kurve verschwunden. Als ich aufschließe merke ich sofort, dass etwas nicht stimmt. Carstens Rad liegt auf dem Weg und er springt fluchend darum herum.
Der Rahmen ist gebrochen. Gerade hier. Auf über 2000 Meter über dem Meer. Kilometer weit entfernt von der nächsten Straße, geschweige denn einer Stadt, oder einem Fahrradgeschäft. Zwischen Sitz- und Oberrohr klafft eine breite Lücke. Passiert ist es nicht beim Abfahren, nicht beim Stürzen oder bei einem Unfall. Nein, beim Bergauffahren auf feinem Schotter, auf einem Weg der nicht mal besonders steil ist.
Eine derart miese Fehlkonstruktion habe ich im Fahrradbau zuvor und auch später nie wieder gesehen. Wenn im Fahrradbau das Design vor konstruktionstechnischen Erfordernissen Vorrang hat, ist das Fahrrad nur noch Prestigeobjekt und nicht mehr als Sport -und Freizeitgerät verwendbar.

Carsten:
"Ich fahre gerade mal 500m nach der Rast am See, eine kleine Senke in dem eigentlich gut fahrbaren Trail macht es notwendig etwas kräftiger in die Pedale zu treten...Peng, ein Geräusch wie beim Zertreten einer Getränkedose...ich sitze auf dem Hinterrad...game over. Rahmenbruch, und das beim bergauf Fahren, einfach abgeknallt, der Schrotthaufen...erst mal Dampf ablassen, die Kamera läuft. Was nun?"

Rolf:
Nein, nicht schon wieder! Immer wenn ich mit Carsten bei gigantischem Panorama in den Dolomiten unterwegs bin gibt sein Votec den Geist auf, komischerweise immer an einer anderen Stelle.
Carsten ist kurz von dem absoluten Kollaps, wir anderen sind nur entsetzt. Das könnte das Aus der Tour sein. Es ist Freitag Abend, mitten in den Bergen ist kaum ein Ersatzbike zu bekommen.
Erstmal versuchen wir Carsten zu beruhigen. Er hält sich auch erstaunlich gut, wenn auch nicht alles sendefähig wäre. Nach zwanzig Minuten ist der erste Schreck verflogen, das Rad zusammengebastelt und es geht weiter.

Doch irgendwie müssen wir weiter kommen. Mit einem Spannriemen zurren wir das Sitzrohr über Schnellspanner und Dämpfer an das Oberrohr. Zum Bergauffahren ist das Fahrrad so sicherlich nicht mehr zu gebrauchen. Doch mit etwas Glück, kann Carsten so ins Tal kommen. Wenn man im Stehen fährt hält sich die Belastung auf das gebrochene Stück in Grenzen.
Carsten schiebt nun also die letzten hundert Höhenmeter bis zur Forcella Ambrizzola. Dahinter geht es noch ein Stück weit eben am Hang entlang, dann führt der Singletrail hinab. Beim Abfahren schlägt das Oberrohr mehrfach gegen das Sitzrohr. Es gelingt uns nicht die Rohre ganz zusammen zu spannen. So entwickelten wir den "Tannenzapfendämpfer". Carsten steckt einfach einen mittelgroßen, von der Sonne ausgedorrten Tannenzapfen in das Oberrohr und spannt es dann wieder fest. Jetzt ist das Bastel-Kit perfekt.

Carsten:
"Abfahren geht ganz passabel, das dicke Unterrohr trägt...wie lange noch? Ich kann nur nicht wie gewohnt mit dem Oberschenkel gegen den Sattel drücken um das Bike durch den schmalen Trail zu steuern. Warum heute? Warum gerade hier auf dieser Traumabfahrt nach Alleghe? Warum hab ich den Schrotthaufen nicht schon nach dem ersten Rahmenbruch vor zwei Jahren verkauft?

Um nicht noch ein Stück der Straße zum Forcella Staulanza hinauf fahren zu müssen entschließen wir uns weiter oben am Hang die Höhe über einen Wanderweg zu halten. Zuerst klappt das ganz prima. Dann wird er jedoch immer unwegsamer und geht ständig bergauf und bergab. Es ist sehr zeitraubend und uns ist allen klar, dass wir das heutige Etappenziel San Martino di Castrozza nicht erreichen werden.

Dave:
"Ausgerechnet bei dieser mit über 3.000 Hm veranschlagten Marathonetappe trifft uns das Pech. Ich bekomme es auch noch zu spüren, als mein Schaltwerk das vollendet, was es wohl schon im Karwendel probiert hatte. Nach einem nur seichten Sprung zwei kleine Absätze hinunter, trete ich wieder an, als es einen unangenehmen Krach gibt. Das Schaltwerk hat sich schon wieder um die Kassette gewickelt. Diesmal hat die Kraft allerdings ausgereicht das Schaltauge abzureißen! Na, zum Glück habe ich Ersatz dabei. Aber die Kette ist jetzt wirklich hinüber und das Schaltwerk müsste eigentlich auch ausgetauscht werden. Das Schalten geht mehr schlecht als recht. Das alles zerrt nun extra stark an den Nerven."

Carsten:
"Wir wechseln im Formel 1 Tempo das Schaltauge, bis Rolf und Roland da sind kann´s schon weiter gehen. Ich gebe Gas, ich will schnell zum Pass, hoffe auf das Begleitfahrzeug um vor 18.00 Uhr einen Bikeverleih zu erreichen. Der Weg ist kraftzehrend, wie in Trance peitsche ich mich vorwärts, wuchte den Bock schiebend den Berg hinauf, rase Geröllfelder hinab...hoffentlich hält der Mist. Der Pass, kein Begleitfahrzeug, der Biker von heute Mittag sitzt im Gras, ich zeige Ihm meinen schönen Leichtbaurahmen...."

Der Wanderweg scheint kein Ende zu nehmen. Wir queren zwei Geröllfelder und sehen unter uns die bequeme Straße.
Schließlich erreichen wir den Forcella Staulanza. Vom Forcella Ambrizzola aus hatte ich versucht das Filmteam zu erreichen, damit sie Carsten hier abholen. Doch von ihnen fehlt jede Spur. Niemand da. Kurzfristig entscheiden wir weiter bis Alleghe zu fahren.
Nach einer kurzen Asphaltabfahrt geht es natürlich erstmal bergauf. Carsten muss schieben, doch wir kommen trotzdem relativ schnell vorwärts. Teilweise ist der Weg so steil, dass wir im Fahren aber auch nicht viel schneller sind.
Bald erreichen wir die ausgewiesenen Mountainbikerouten, die uns hinab nach Alleghe führen sollten. Die Wege sind sehr steil und mit groben Geröll und holprigen Steinplatten nur für Freunde des Extremen eine Freude. Selbst der Rahmenbruch vermag Carstens Trailekstase hier nicht einzudämmen! Außerdem bringen uns die Pfade schnell nach Alleghe.
Es ist kurz nach 18 Uhr und wir finden sogleich ein noch geöffnetes Sportgeschäft. Der Besitzer rät uns zwei Kilometer weiter bis Masare am anderen Ende des Lago d´Alleghe zu fahren. Dort sei ein Fahrradgeschäft.
Carsten und Dave brechen sofort auf, während ich mit Rolf in der Stadtmitte von Alleghe warte. Wir gehen derweilen ein Eis essen und ich bekomme endlich Kontakt zum Filmteam. Sie sind auf einen Berg gestiegen um dort Atmo-Aufnahmen zu machen sowie Details der Fauna und Flora der Bergwelt zu filmen. Dort oben hatten sie natürlich keinen Handyempfang.
Wir machen aus, dass sie nach Alleghe kommen, so dass wir gemeinsam die Nacht verbringen können.

Mit dem Fahrradladen in Masare hat Carsten Glück. Für eine Leihgebühr von 50 € wird ihm für die nächsten fünf Tage ein Bike vermietet. Nicht gerade was richtig Tolles, aber so kann es weiter gehen.

Carsten:
"Mit Händen und Füßen verhandle ich um ein Leihbike. Das Material, das hier herum steht, ist nicht gerade das, womit man einen Alpencross machen kann, na egal, als ich den Preis sehe und daran denke, was für Alternativen ich hier am Ende der Welt habe nehme ich halt, was es gibt. Ich lasse das Votec im Laden zurück und fahre ab sofort weiter auf einem Bike der Baumarktklasse mit dem wohlklingenden Namen Coach...the show must go on"

Neben dem Bikegeschäft ist auch gleich ein kleines Hotel. Nachdem Carsten und Dave vom Fahrradgeschäft zurück sind, fahren wir zu viert zum Hotel und beziehen unsere Zimmer. Mit Micha und André verabreden wir uns in einer Pizzaria in Alleghe.
Schnell machen wir uns bei den letzten Sonnenstrahlen des Tages auf den Weg dorthin. Kaum haben wir bestellt, da kommen auch die beiden Filmleute. Die Pizza ist gigantisch. Ich würde sagen, ich habe im Leben noch nie so eine gute Pizza gegessen.

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